Wie die meisten von uns bin ich umgeben von Handgemachtem aufgewachsen: Mit einer strickenden, kochenden und backenden Mutter und einer Großmutter, die Socken stopfte, ihr Geschirr per Hand spülte und ihre Hühner selbst schlachtete. Meine Kindheitserinnerungen sind keine Ausnahmen, die Bemühungen meiner Mutter und Großmutter keine zufällig gewählten Hobbys, sondern Ausdruck eines Lebensstils, der noch vor drei Jahrzehnten der gängigen Norm entsprach. Handgemachtes war in vielen Lebensbereichen selbstverständlich.
Text und Fotos von Hilke Annegarn // @my.homesong
Wer sich heute für traditionelle Haushaltstechniken interessiert, wer sich für Nachhaltigkeit, für Klimaschutz, für ein sogenanntes „einfaches“ Leben begeistert, landet schnell in den sozialen Medien, stößt auf Hochglanzmagazine und begegnet romantischen Darstellungen von Aussteigerfamilien. So war es auch bei mir – und so schnell wie die Begeisterung gekommen war, folgten ihr Ernüchterung, Frustration und eine Spirale aus Vergleichen, bei denen ich nur verlieren konnte.
Mir wurde bewusst, dass wir Handgemachtes vielleicht durch die falsche Brille betrachten. Es ist nicht zwingend eine rosa Brille, aber sehr wohl eine, die mit dem eingefärbt ist, was der Sozialisation der meisten von uns entspricht: Erfolg, Leistung und Fortschritt.
Die Faszination für Handgemachtes trat nach einem schweren Schicksalsschlag in mein Leben. Ich war von Erfolg, Leistung und Fortschritt ebenso weit entfernt wie von einem eigenen Hof, einem Gemüsegarten, schicken Einkochgläsern und nachhaltigen Kosmetikprodukten. Ich konnte nicht mithalten – und verstand, dass es nicht ums Mithalten ging.
Aber worum ging es dann? Und wie können erste Schritte in ein handgemachtes Leben aussehen? Von wo aus können wir starten?
Ich glaube, von dort, wo wir gerade stehen, ganz egal, wo das ist. Ein handgemachtes Leben, so wie meine Großmutter es lebte, widersprach in vielerlei Hinsicht den Maßstäben, an denen wir uns heute messen, denn es war nicht effizient, nicht bequem, nicht makellos ästhetisch. Es orientierte sich nicht an entfernten Lebensträumen, sondern an pragmatischen Entscheidungen und vorhandenen Möglichkeiten. Es war geprägt von Mühe, von Improvisation und vor allem von Gemeinschaften, oft Schicksalsgemeinschaften in Form von Dörfern, deren Bewohner darauf angewiesen waren, sich gegenseitig zu unterstützen, ungeachtet ihrer Sympathien füreinander. Meine Realität war also gar nicht so weit entfernt von der meiner Oma. Der Aufbruch in ein handgemachtes Leben kann von jedem erdenklichen Standpunkt aus erfolgen. Vielleicht am Herd, in Form einer Mahlzeit, die am Monatsende aus den Resten in der Vorratskammer entsteht. Vielleicht in Form von Widerstand, indem wir dem Staubsaugerroboter, dem Kochautomaten, dem Kauf eines größeren Autos widerstehen. Vielleicht im Badezimmer, wenn wir unsere unzähligen Kosmetikprodukte sichten und uns daran erinnern, dass es auch ein Leben vor der Erfindung von Augenserum, Fußdeo und Zahnaufheller gab. Vielleicht an der Haustür unserer Nachbarn, die wir um Hilfe bitten, ohne uns dafür zu entschuldigen und ohne eine Gegenleistung anzubieten, wissend, dass verlässliche soziale Strukturen auf Vertrauen und Solidarität beruhen und kein Kuhhandel sind.
Ein handgemachtes Leben ist nicht erst dann erfolgreich, wenn wir alles können, alles haben und alles „richtig“ machen, sondern dann, wenn es uns und den Menschen, mit denen wir leben, guttut. Mit dem eigenen Tun etwas bewirken zu können, ist eine positive Form von Kontrolle, die mir in Zeiten großen Kontrollverlusts half, mich an meine eigene Selbstwirksamkeit zu erinnern.
Dinge, die wir im Wortsinn mit den eigenen Händen gestalten können, haben wir auch im übertragenen Sinn „in der Hand“. Wir können sie überblicken, gestalten, verändern und reparieren und dadurch verstehen, dass unser Einflussbereich zwar begrenzt ist, aber durchaus vorhanden. Dieses Verständnis ist vielleicht die bittersüße Essenz eines langsamen, einfachen, mit den eigenen Händen bestrittenen Lebens: Wenn wir größtenteils auf Dienstleistungen, auf industriell hergestellte Produkte und auf den Alltag erleichternde Geräte verzichten wollen, machen wir uns zwar von ihnen unabhängig, dafür aber an anderer Stelle wieder abhängig, und zwar voneinander. Tragfähige Bande zu bilden, verlässliche soziale Gefüge einzugehen, das ist vielleicht das Schwerste und gleichzeitig das Schönste, was ein handgemachtes Leben für uns bereithalten kann, nämlich eine Form von Sicherheit, die nicht an Leistung gebunden ist, sondern an unsere Fähigkeiten und an ein tiefes Vertrauen in die Menschen um uns. Um diese Herausforderung anzunehmen, braucht es weder den besten Einkochtopf, noch einen eigenen Erdkeller, sondern nur ein bisschen Mut.
Über mich
Aufgewachsen in Norddeutschland, auf einem Hof mit Gemüsegarten und vielen Tieren, verschlug es mich zunächst in die Großstadt. Seit einigen Jahren bin ich wieder in meiner alten Heimat ansässig und lebe mit meinem Partner und meinen beiden Kindern in einem kleinen, alten Häuschen, wo ich mit viel Hingabe und mäßigem Erfolg koche, backe, stricke und gärtnere. Ein handgemachter Lebensstil bedeutet für mich vor allem, ein Bewusstsein für Kapitalismuskritik, Gemeinschaftsfürsorge und Nachhaltigkeit zu entwickeln.
Hilke Annegarn // @my.homesong